Digitaler Wandel als Gesellschaftssituation – Herausforderungen für Mensch, Gesellschaft und Pädagogik

Kilian Gaertner/ July 4, 2019/ digitalisierung, Internetabhängigkeit, Internetsucht, SinnesWandel

Ich möchte als Leiter und Gründer der GKS-Stiftung für alle, die 2019 an der Profilierung und Vertiefung des Verständnisses unserer Stiftung für „Gesundheit, Kultur und Soziales“ mitwirken wollen, diesen Vortrag in seine für mich wegweisenden und diskussionswürdigen Thesen zusammenfassen (gehalten von Robin Schmidt am 22.09.2017 im Goetheanum / Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach/ Schweiz). Zugleich liegt ein weiterer Schwerpunkt auf den Grundsätzen der anthroposophischen Geisteswissenschaft, um für ein klareres Verständnis der Chancen als auch Gefahren einer Digitalisierung unserer Lebenswelten hinzuweisen.

Herr Schmidt knüpfte an die These des ital. Philosophen G. Agamben an, wonach die digitale Technik heute eine neue Position einnimmt, die weiterführend die Erfindungen des Buchdrucks oder später der maschinellen Technik bedient. Die Ansätze dieser ‘”Disruption” – eine gänzliche oder teilweise Verdrängung der bestehenden Technologien bzw. Prozesse hin zu einer neuen Technologie – bewirkt nebenbei eine Weiterführung der vorherrschenden Kultur und Tradition. Diese Unterbrechung in der Überlieferung und in einer lebendigen Fortsetzung unserer Sprach- und Gedankenströme, führt letztlich zum Entstehen einer neuen Lebenswelt.

Kind mit Aquarium Photo caroline hernandez

Bezugnehmend auf eine digitalen Lebenswelt tritt diese Erfahrung bereits in früher Kindheit an die Stelle der bisherigen, analogen Erfahrungen und Erlebnisse. Durch und mit unseren Sinnen Denken und Sprechen. Schon für die nächste Generation wird „online sein“ als Normalzustand der Erfahrungen angesehen und „offline sein“ als eine Ausnahme empfunden!

So sehr diese vom Einfluss der Sinne entlastete bzw. befreite Lebenserfahrung positive Auswirkungen hat, so sehr zeigt sie auch ihre negativen Folgen, die von Robin Schmidt als sog. “drei große Verluste“ beschrieben werden:

Den Verlust der Natur-Gesundheit, der Verlust der sozialen Einbindung in die Gemeinschaft und in die Gesellschaft und der Verlust von Religion und Kultur innerhalb der industriellen Zeit.

Mit dem Übergang in eine digitalisierte Welt, haben sich diese drei Verluste noch einmal radikalisiert, hat sich die Entfremdung des autonomen Individuums – welches zum ersten Mal kulturgeschichtlich in den alleinigen Mittelpunkt getreten ist ­– noch weiter verstärkt!

Die Reformpädagogik wie z.B. die Waldorfpädagogik, sieht Anfang des 19. Jahrhunderts ihre Aufgaben ursprünglich darin, das “werdende Ich” zu befähigen und auf diesen drei Problemfeldern eine ökologische Gesundheit, ein demokratisches Soziales und ein spirituelles Kultur-Bewusstsein zu entwickeln.

Gegenüber der industriellen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts hat sich heute diese emanzipatorische Aufgabenstellung noch einmal erschwert aus folgenden Gründen:

  1. Das Subjekt als Objekt

Heute ‘‘denken‘‘ unsere digitalen Geräte für uns, wir werden von ihnen gesehen, ein beständiges Gesehen werden ist das “Selfie”… Dies stellt einen fundamentalen Wandel meines Selbstverhältnisses dar. Nicht mehr ICH betrachte die Welt, sondern ich WERDE betrachtet, durch mich oder durch andere.

Ich mache mich – so kann man zusammenfassend sagen – zum Objekt. Ich habe ein Verhältnis zu mir, wie zu einem Ding. Ich habe eine Art technisch herbeigeführtes “Umkreisbewusstsein.”

Damit ist auf den entscheidenden Wendepunkt eines gegenwärtigen Sinneswandels hingewiesen:

Umkreisbewusstsein zu erlangen, ist zweifelsohne ein hohes, würdiges Ziel jeglicher Bewusstseinsschulung bzw. -erweiterung. Es ist gleichzusetzen mit einer ‘‘Überwindung‘‘ von (borniertem) Egoismus, (arrogantem) Altruismus und (eingebildeter) Natur-Liebe etc.

Jedoch: Was bringt uns dieses Umkreisbewusstsein, wenn es nur technisch herbeigeführt ist, aber nicht durch aktive, selbstgesteuerte und selbstgestaltende Schulung unserer Sinne und unseren Denkens Verwendung findet? Sicherlich und vielleicht virtuelle (oder auch bequeme, schnelle, billige) ‘‘Erlebnisse‘‘ mit ungewissem Ausgang…

A. Bereits heute evident ist das Schwinden unserer Sinne, die zunehmend durch Bildschirm und digitale Steuerung nur noch eine Dekodierungsfunktion als Bedeutungsvermittler bedienen.

B. Man könnte meinen, dass wir wieder ‘‘eine neue Art Materialismus entwickeln müssen, die die Leiblichkeit des Menschen als Kulturgut ansieht und damit humanistisch wird‘‘.

  1. Das Leben als Spiel

Auf der biographischen Ebene des Lebens scheint uns die digitale Lebenserfahrung eine Welt mit ungezählten, nicht enden wollenden Möglichkeiten zu eröffnen.

Aber: solch ein Leben-in-Möglichkeiten (technisch: On-Do-Modus) bedingt zugleich einen Verlust der realen Erfahrungen von Leid und Lust zu erleben, sowie kann sie zum Zwang werden, immer weiter nach ‘‘der Freiheit‘‘ suchen zu müssen, die ‘‘alle Möglichkeiten‘‘ offen hält….

Unbegrenzte Möglichkeiten – Bild joshua sortino

  1. Der Verlust der Andersartigkeit

Ein weiteres Merkmal der digitalen Lebenswelt ist der z.B. technisch durch Algorithmen angezeigte Verlust von ganz anderer, neuer, für mich überraschender Erfahrung, machen zu dürfen. Alle Angebote der verschiedensten Profile sollen bereits auf mein So-bin-ich zugeschnitten sein.

Baudrillard spricht von der ‘‘Hölle des Immer Gleichen‘‘ (Filterbubble), aus der wir nicht mehr entrinnen können.

Klone – Der Film Cloud Atlas

 

Fazit: Verluste, neue Freiheiten, neue Privilegien und wichtige Aufgabe der Stiftung für “Gesundheit, Kultur und Soziales“

Auf allen dreien von Herrn Robin Schmidt aufgezeigten Ebenen der digitalen Lebenswelt, kann man übereinstimmend die Gefahr eines Verlustes der individuellen Kulturentwicklung sehen.

In der digitalen Welt enthalten, ist aber zugleich eine emanzipatorische Chance der Befreiung von der Erfahrung des Leibes.

Die virtuelle Welt bietet uns eine bestimmte “Freiheitserfahrung“ durch die, die Beschränkungen und Grenzen unserer Sinne, unseres Leibes, unseres Verstandes, überschritten werden können!

Eine gegenteilige Frage entsteht aber zugleich: Wer hat demgegenüber überhaupt noch die (ebenso wichtige) Freiheit, sich dem digitalen Raum entziehen zu können? Das Im-Leib-Sein, die Erfahrung der Sinne weiterhin behalten zu können, wird nun zum Sonderrecht:

  • Wird es nun zu einem neuen Privileg, sich dem (technisch-peripheren) Beobachtungsmodus und dem Leben in Simulationen entziehen zu können? (Gesundheit)

Und:

  • Wer hat zukünftig noch die persönliche Entschlusskraft, um sich sozial binden zu können, sich zu etwas Unumkehrbaren zu entschließen?! Wer kann sich eine Biographie leisten? (Stichwort Kultur)

Zuletzt:

  • Wie bleibe, wie werde, ICH wieder frei für den Empfang, das Wahrnehmen von Andersartigkeit, des anderen Menschen? (Stichwort Soziales)

Die neuen Aufgaben der Gestaltung in der digitalen Lebenswelt ergeben sich also aus der Frage nach der Freiheit zum Sinnesleib, der Freiheit zur eigenen Biographie, der Freiheit zu Wahrnehmung des anderen Menschen?

Es lassen sich hieraus drei ähnliche, wesensverwandte Aufgabenfelder ableiten, die auch für unsere ‘‘Stiftung GKS‘‘ vorgegeben sind:

+ Gesundheit:

ein gesundes Verhältnis zum eigenen Leib/ zur Sinneswahrnehmung finden (Vergleich: ökologisches Bewusstsein)

+ Kultur:

Das eigene Leben nachhaltig selbstwirksam zu gestalten (Biographie-‘‘einschreiben‘‘)

+ Soziales:

Sich für den Anderen, besonders für alle Andersartigkeiten, zu begeistern.

Steine – Bild deniz-altindas

Für die Umsetzung dieser Aufgaben darf einerseits die Radikalität als auch der Ernst, der im 21.Jahrhundert auf uns, unsere Kinder, zukommenden Problemstellungen nicht relativiert und übersehen werden. So spricht der Soziologe C. Baudrillard mit Recht davon, wie uns digitale Medien unweigerlich zu ‘‘zerebral Behinderten‘ ‘zu ‘‘geistig Behinderten‘‘ machen werden und R. Spitzer diagnostiziert als Neurologe und Psychiater einen “digitalen Autismus‘‘ als Folge uneingeschränkter Mediennutzung bei Kindern und Schülern.

Eine Alternative zur Digitalisierung (global) ist derzeit nicht sichtbar.

Der Psychiater de Wildt diagnostiziert…

‘‘Im gewissen Sinne entspricht die Situation des digitalen Lebens ja einem heilpädagogischen Fall‘‘ (Die anthroposophische Menschenkunde spricht davon, dass wir gesellschaftlich nicht mehr unsere körperlich-seelisch-geistigen Wesensglieder ‘‘ergreifen‘‘ können.)

Die ‘‘heilpädagogische‘‘ Intention unserer Stiftung muss sich daher auf eine langfristige Handlungsperspektive einstellen, die nicht nur aktuelles Gesundsein, sondern die Kontinuität zwischen vorgeburtlichen und nachtodlichen individuellen Leben einbezieht.

Jede ‘‘Heilpädagogik‘‘ muss sich ein anderes ‘‘Management‘‘ leisten, welches (scheinbar) erlaubt nebensächliche Dinge zu beachten und ihnen neue Bedeutung gibt (‘‘Andacht zum Kleinen‘‘) und welches ermöglicht, ein Handeln auf gemeinsame Werte zu beziehen, langsame Umwege, ‘‘Rückschritte‘‘ zuzulassen und Traditionen neu zu beleben.

Analoge Techniken, die zum Beispiel aus dem Handwerk oder der Kunst hervorgingen, können hier ihren berechtigten Platz neben digitaler Technik behalten. Auch andere (langsame) Methoden der gegenseitigen Hilfe können unter dieser Perspektive erübt und trainiert werden, denn wir wissen, dass die Schulung von persönlichen Willens- und Entwicklungsfähigkeiten eine befreite Nutzung der digitalen Technik erst ermöglicht.

Digitale Technik macht den Menschen bequem. Die ‘‘heilpädagogischen‘‘ Angebote werden als zusätzliche ‘‘Gegenkräfte‘‘ benötigt, die wir uns intellektuell, emotional und intentional erst wieder erarbeiten müssen.

Für die Profilierung unseres Stiftungsprofils (d.h. seinen Werten, Zielen, Aufgaben und sinnstiftenden ‘‘Haltungen‘‘) ist der Vortrag von Robin Schmidt für uns dadurch sehr hilfreich:

  • weil er auf 3 Ebenen der Stiftungstätigkeit, nämlich der Ebene des Sinnesleibes, der Ebene der Biographie und der Ebene der sozialen Erfahrung, Risiken und Chancen beschreibt, die der digitale Wandel mit sich bringt.
  • weil er davon ausgeht, dass die digitale Erfahrung, für die meisten Menschen schon bald zum Normalzustand ihrer Wahrnehmung wird, und die sinnliche Erfahrung dagegen zum bloßen Ausnahmezustand wird.
  • weil er die neuen Gefahren einer Unterbrechung von kulturell erworbenen Fähigkeiten gegenüber den neu zu beherrschenden Techniken beschreibt. Schon heute ist unsere Sprache, das Schreiben, das logisch freie Denken, die „Ich“ autonome Steuerung alltäglicher Geräte, durch „smarte“ Maschinen bedroht.
  • weil er die negativen Auswirkungen der Digitalen Veränderung nicht so sehr in medizinischen Kategorien wie z.B. Sucht, Depression usw. sondern vielmehr als kulturelle und soziale Entfremdung beschreibt.
  • weil er die wirksamen Gegenmittel dieser Entfremdung in der Erziehungskunst und auch in der Heilpädagogik sieht.

Unter der Überschrift ‘‘Digitalen Wandel gestalten‘‘ stellt Robin Schmidt zum Schluss seines Vortrages die Frage nach einem Leitmotiv, welches dem digitalen Wandel eine Richtung, Orientierung geben kann. Er schlägt vor, die Ausrichtung an der Würde des Individuums – die, für die Gestaltung der industriellen Revolution sinnstiftend war  – zu ergänzen, z.B. durch die Idee der Gastfreundschaft: „ Bereit zu sein das eigene Haus, das eigene Sein so zu öffnen, dass der andere eintreten kann und einen Ort findet, an dem er bei sich sein kann“.

Kilian Gaertner

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