“An der Stimme und am Gang erkennt man, wie ein Mensch gestimmt ist.“

Christina Dietrich/ April 10, 2024/ Gesundheit, Medienabhaengigkeit, Sinne, Tinnitus, Uncategorized

Atem – Bewegung – Stimme Körperarbeit nach Elsa Gindler und Frieda Goralewski

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in der westlichen Welt eine entscheidende Wende in der Bewegungspädagogik. Im Mittelpunkt stand damals die Bewegungspädagogin Elsa Gindler (1885–1962). Sie selbst war von verschiedenen Ansätzen inspiriert, insbesondere der Bewegung der Harmonischen Gymnastik von Hedwig Kallmeyer (1881–1976), von der Atem- und Stimm-Arbeit von Clara Schlaffhorst (1863–1945) und Hedwig Andersen (1866–1957) und deren Lehrer Leo Kofler, (USA). 

Elsa Gindler entwickelte, gemeinsam mit dem Musiker Heinrich Jacoby (1889–1964), mit ihren Schülerinnen und Schülern „Fragestellungen zur Selbstentfaltung“. Sie erkannten, dass das Wissen um die eigene innere Harmonie und Ordnung und die selbstregulierenden und schöpferischen Kräfte im Menschen so angelegt sind, dass er in einem geschützten, d. h. angstfreien und wohlwollenden Raum durch Ausprobieren und Nachspüren Zugang zu sich selber bekommen und wieder aus seiner inneren Mitte leben kann. Keine von außen aufoktroyierten Konzepte oder vorgegebenen Lösungen, keine ausgeklügelten Übungen, Techniken oder Systeme, sondern die wertfreie Selbstbefragung und Selbstbeobachtung bringen den Menschen zur Entfaltung seines Potenzials und zu der ihm innewohnenden Harmonie.

„Unser Organismus ist ein riesiges Erfahrorgan, von dessen Ungestörtheit oder Gestimmtheit die Qualität der Wahrnehmungen und Handlungen und des Denkens abhängt.“

Elsa Gindlers „Arbeit am Menschen“, wie sie es damals nannte, beeinflusste sowohl die Bewegungspädagogik als auch die Psychotherapie und die Körperpsychotherapie auf der ganzen Welt, u. a. auch Laura und Fritz Perls (Gestalttherapie), Wilhelm Reich (Vegetotherapie/Bioenergetik) und Helmut Stolze (Konzentrative Bewegungstherapie). Aus diesen beiden Ästen, dem körper- pädagogischen und dem (körper-)psychotherapeutischen, haben sich in der Schüler:innengeneration und deren Nachfolge vielfältige Verzweigungen bis in die heute bekannten Körper-, Atem-, Stimm- und Achtsamkeitsansätze gebildet.

Elsa Gindler legte viel Gewicht auf das Verbalisieren der in den Unterrichtsexperimenten gemachten Erfahrungen. Ihre langjährige Schülerin, Frieda Goralewski (1893 -1998), entwickelte eine eigene Herangehensweise, deren Schwerpunkt im Spüren und Lauschen auf den Körper bestand. In genauer Kenntnis der anatomischen Strukturen und Zusammenhänge führte sie die an ihren Kursen teilnehmenden zu einer immer differenzierteren körperlichen Wahrnehmung. Bis ins kleinste Detail beschrieb sie wieder und wieder die anatomischen Zusammenhänge und das Zusammenspiel der Gewebestrukturen – Muskeln, Sehnen, Faszien, Bänder, Blut-, Organ- und Nervensysteme – aber vor allem das Skelett.

Durch bewusstes Erleben des  Augenblicks kommen wir zu größerer Präsenz und Durchlässigkeit, die sich dann in der Qualität der Bewegung und Lebendigkeit des Ausdrucks zeigt. Das Erfahren des feinen Zusammenspiels in uns stärkt das Vertrauen in die Weisheit des eigenen Körpers, aus der wir auch in Zeiten äußerer Belastung oder inneren Ungleichgewichtes schöpfen können.

Vertraute alltägliche Bewegungen wie das Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen können, wenn wir sie bewusst wahrnehmen, spüren und erleben, zum Quell der Gesundheit für uns werden. Im alten China nannte man sie “die vier Würden des Menschen” und es ging darum, diese würdig, d. h. in Harmonie mit den Gesetzen der Natur, zu leben. Auch Atem und Stimme gehören zu den grundlegenden Bewegungen des Körpers. Sie sind wesentlich für unsere Lebendigkeit, den Austausch zwischen uns und der Welt.

So beschreibt es auch Heinrich Jakobi: „Man muss bewusst erfahren haben, was Bei-sich-Sein für das In-Beziehung-Kommen, das Kontaktgewinnen mit Menschen bedeutet, damit es einem wichtig werden kann, so sein zu können.“

Spüren was ist – ”Wahrnehmen, was wir empfinden” (Elsa Gindler)

Unser Körper ist ein Wunderwerk an Koordination, Austausch und Synergie. Wir können ihn als Mikrokosmos im Makrokosmos, als Welt in der Welt, bezeichnen. Doch was in uns koordiniert und nimmt das alles wahr? Wie erleben wir durch unsere Sinne? Es ist die Fähigkeit des Spürens, durch die das Erlebte ins Bewusstsein kommt. Spüren ist nicht quantifizierbar, messbar oder wiederholbar. Als eine unserer feinsten Wahrnehmungsmöglichkeiten ist es ein subjektives, im Augenblick stattfindendes Empfinden und hat im Sinne eines Biofeedbacks eine zentrale Bedeutung. Oft ist uns die Fähigkeit des inneren Wahrnehmens nicht zugänglich, weil wir sie nicht gebrauchen, sondern uns eher an äußeren Vorgaben und Bewertungen – wie z. B. falsch und richtig – orientieren, anstatt unserem “Spürsinn” zu vertrauen.

In Kursen wird Raum und Zeit gegeben, für wiederholtes Wahrnehmen und Erspüren der Zusammenhänge im Körper, was zu einer Verfeinerung der Bewegungs- und Stimmqualität führt. Wir erleben den frei fließenden Atem und die Leichtigkeit unserer Bewegungen. Durch diese achtsame Zuwendung können sich die ordnenden Kräfte des Körpers wieder entfalten und wirksam werden

Viele Teilnehmende berichten von der Verbesserung ihres Schlafes, ihrer Stimmung, der Harmonisierung des Blutdrucks, des Atemgeschehens und von allgemein größerer Entspannung. Auch davon, dass sie sich wacher fühlen, lebendiger, freudiger. Letztlich trägt diese Herangehensweise ganz individuell zu Verbesserungen in dem Bereich bei, wo das tägliche gewohnheitsmäßige „Verhalten“ das organische Zusammenwirken der vitalen Kräfte im Körper stört. So ist der Körper auch ein Spiegel für unseren seelischen Zustand.

Elsa Gindler fragte 1931: „Wie können wir nur zur Ruhe kommen? Ich möchte immer wieder betonen, dass es sich für mich nicht um eine utopische, weltflüchtige Ruhe und `Harmonie` oder um ein Rezept zum besseren Ertragen der Weltmisere handelt, sondern dass diese Ruhe und Stille reagierbereiter, tatbereiter, erfolgreicher, vor allem wacher für ein Reagieren auf Zusammenhänge und überhaupt die Erkennung von Zusammenhängen macht. Sodass wir nicht immer am Symptom herum kurieren, wenn wir die Ursachen der Störungen beseitigen können.“

Stephanie Kraus-Geiges

 

 

Literaturangaben:

(1) Kursnotizen von Elsa Gindler 1952 in: Ludwig, Sophie: Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken, Heinrich Jacoby-Elsa Gindler-Stiftung, Berlin, 2015,  S. 189

(2) Jacoby, Heinrich: Jenseits von begabt und unbegabt, Hans Christians-Verlag, Hamburg, 1983, S. 108)

(3) (aus: Schriften der Sensory Awareness Foundation, Erinnerungen an Elsa Gindler, P. Zeitler Verlag, München 1991)

Aus: https://blog.expa-trialog.de/posts/4054 

 

Weitere Literatur:

Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken; „Wahrnehmen, was wir empfinden“,

Textauswahl und Darstellung von Sophie Ludwig, Hrsg. Heinrich-Jacoby/ Elsa-

Gindler-Stiftung, Bearb.: Marianne Haag, Hamburg 2002

Erinnerungen an Elsa Gindler, Berichte – Briefe – Gespräche mit Schülern,

P. Zeitler-Verlag, 1991, 2000

Wenn der Körper singt: Atem, Stimme und Bewegung

zkm 2024; 2:66-69/Thieme Verlag